Archiv des Kölner Architekturmagazins. 2000 - 2021.

Karpfen fangen im Rheinauhafen

„Pokémon Go“ als Architekturführer? Ein Selbstversuch.

Da liegt er mitten auf dem Weg am Rheinufer und zappelt schrecklich: Ein riesiger orangefarbener Fisch. Dem Impuls, ihn sofort in den Rhein zurück zu werfen, folge ich nicht. Stattdessen versuche ich, ihn mit einem kleinen rot-weißen Ball einzufangen. Viele Karpfen zappeln an diesem sonnigen und heißen Tag im Rheinauhafen auf dem Trockenen – natürlich nur in der Hype-App „Pokémon Go“. Ihre Entwickler haben sie der Umgebung angepasst, Pokémons einer Art kommen in Gegenden, die zu ihrer Art passen gehäuft vor. Deshalb also die ganzen „Karpadore“ am Wasser. Wo ich wohne gibt es nur Tauben und Ratten. Ich hoffe noch, dass die Entwickler die Gegend nicht zu genau geprüft haben.

Ein Flegmon auf der Uferpromenade. Screenshot: Vera Lisakowski
Ein Flegmon auf der Uferpromenade. Screenshot: Vera Lisakowski

Pokémon war schon mal ein Hype, in den 90ern als Spiel für den „Game Boy“, vor allem aber mit Sammelkarten die auf Schulhöfen getauscht wurden und bewiesen, dass sich Schüler Daten und Fakten bestens merken können – sofern nicht ein Lehrer versucht, sie zu vermitteln. Jetzt hat die Herstellerfirma das Spiel aufs Handy gebracht und mobil gemacht – und prompt gelingt ihr, was Generationen von Müttern vergeblich versucht haben: Der Satz „geh raus spielen“ zieht auf einmal.

 

Und so sieht man derzeit noch mehr Menschen als sonst auf der Straße, die mit gesenktem Kopf und stierem Blick aufs Handy wohl kaum noch etwas von ihrer Umgebung wahrnehmen. Dabei bietet „Pokémon Go“ gerade die Möglichkeit, Neues in der realen Welt zu entdecken während man in der virtuellen auf Monsterjagd ist. Ich war seitdem schon in Straßen in meiner Nachbarschaft, durch die ich noch nie gegangen bin. Viele Spieler nehmen jetzt einen anderen Weg zur Arbeit, weil dort an mehr Pokestops Bälle und anderes Zubehör zu holen sind. Und man macht Extra-Spaziergänge in Ecken, wo es besonders viele Pokémons geben soll.

Skulptur im Rheinauhafen, links Screenshot des Pokestops in "Pokémon Go", rechts als Foto. Screenshot/Foto: Vera Lisakowski
kulptur im Rheinauhafen, links Screenshot des Pokestops in „Pokémon Go“, rechts als Foto. Screenshot/Foto: Vera Lisakowski

 

So zum Beispiel der Rheinauhafen, wo ich gleich auf eine Stele aufmerksam werde, die mir als Pokestop „Monolith“ präsentiert wird. Gesehen habe ich sie bestimmt schon mal – aber wahrgenommen? Die Pokestops wie auch die Arenen – die es mit den Pokémons für das eigene Team zu erobern gilt – stammen aus dem der Allgemeinheit nicht so bekannten Vorgänger-Spiel „Ingress“ des gleichen Herstellers. Hier mussten „Portale“ für das eigene Team erobert werden – und diese sind in der realen Welt Denkmäler, Kunstwerke, bedeutende Gebäude oder manchmal auch ganz versteckte Details oder Street-Art.

 

Eine kreisförmige Skulptur, die wie ein Pokestop im Spiel "Pokemon Go" aussieht. Foto/Screenshot: Vera Lisakowski
Skulptur im Rheinauhafen, die wie ein Pokestop im Spiel „Pokemon Go“ aussieht. Foto/Screenshot: Vera Lisakowski

 

Dass die Kranhäuser keine Arena sind, sondern nur Pokestops, ist allerdings für Architekturliebhaber ein Affront. Und dann bekomme ich dort nur drei lächerliche Bälle. Über meine Entrüstung hilft mir, eine Skulptur zu entdecken, die wie ein Pokestop aussieht, aber gar keiner ist. Realität und Virtualität überlagern sich an dieser Stelle auf eine herrlich ironische Weise – leider können die vier Rentner, die ohne Smartphone auf Besichtigungstour sind, meine Begeisterung nicht nachvollziehen und betrachten mein grinsendes reales Ich, das die Skulptur umkreist, mit distanzierter Verwunderung.

 

Vielleicht wissen sie, dass es im Rheinauhafen eine Harry-Blum-Büste gibt. Ich wusste es nicht. Den Harry-Blum-Platz, ja, aber eine Büste? Auch ein Pokestop. Ich muss lange suchen, bis ich sie finde. Sie steht sehr versteckt an die Seite des Kranhauses gedrückt. Nicht dass sie künstlerisch besonders wertvoll ist, aber ohne das Spiel wäre ich nicht mal auf die Idee gekommen, nach ihr zu suchen. Das Game als Schnitzeljagd mit kulturellem Hintergrund zu begreifen, macht außer mir natürlich wahrscheinlich niemand. Denn die Objekte der Pokestops lassen sich auch einsammeln, wenn man das Monument in der Realität nicht sieht, nicht mal vom Handy aufblickt. Eine weitergehende Erklärung gibt es nicht. Auch den Pokémons muss man nicht zwingend in unbekanntes Terrain hinterherrennen, sie lassen sich aus einiger Entfernung fangen.

 

Ein Karpador schwebt über dem Wasser an der Einfahrt zum Rheinauhafen. Screenshot: Vera Lisakowski
Ein Karpador schwebt über dem Wasser an der Einfahrt zum Rheinauhafen. Screenshot: Vera Lisakowski

 

Aber die Funktion der Augmented-Reality, bei der das Phantasiewesen in die reale Umgebung projiziert wird, eröffnet einen neuen, manchmal unterhaltsamen Blick. Und sie sensibilisiert denjenigen, der sich darauf einlässt, für Details: Ich habe eine Fitness-Beschilderung auf den Bänken im Rheinauhafen gesehen, Erdbeeren im Blumenkasten, die „Schiffs-Tanken“ direkt am Ufer, den heiligen Nikolaus hinterm Schokoladenmuseum. Ich habe erstmals an der Drehbrücke am Schokoladenmuseum gewartet und den Rheinpegel genau betrachtet. Das alles hätte ich natürlich auch ohne „Pokémon Go“ machen können. Mit einem guten Reise- oder Architekturführer sogar noch jede Menge dabei lernen können. Aber wäre ich dann überhaupt losgegangen? Bildungs-Spaziergänge macht man doch sonst nur auf Reisen, nicht dort, wo man lebt. Ach ja, und 45 Pokémons gefangen hätte ich dann auch nicht – allerdings kann ich jetzt eine Fischhandlung aufmachen.

Vera Lisakowski