Archiv des Kölner Architekturmagazins. 2000 - 2021.

„Mit der Moderne wird oft noch gefremdelt“

Im Gespräch mit Tim Rieniets über das StadtBauKultur-Projekt „Zukunft – Kirchen – Räume“

„Zukünftig werden 25 bis 30 Prozent der nordrhein-westfälischen Kirchenbauwerke außer Dienst gestellt werden“ – da ist es, das Viertel oder gar Drittel, das schon so lange (fast) unausgesprochen im Raum steht. Jetzt hat sich die „Landesinitiative StadtBauKultur NRW“ des Problems angenommen. Am 14. Februar 2019 startet das Projekt „Zukunft – Kirchen – Räume“ mit einer Auftaktveranstaltung und der feierlichen Onlinestellung der dazugehörigen Homepage. Kurz vor Beginn sprach Karin Berkemann mit Tim Rieniets, Professor für Stadt- und Raumentwicklung in Hannover und – bis 2018 als Geschäftsführer von StadtBauKultur NRW – Initiator des Projekts.

Prof. Tim Rieniets (Bild: Sebastian Becker)

Herr Prof. Rieniets, wie kommt es zu dieser großen Zahl von fast einem Drittel der nordrhein-westfälischen Kirchen, die künftig aus der liturgischen Nutzung genommen werden?

Tim Rieniets: Diese Zahl ist natürlich mit etwas Vorsicht zu genießen, da man nur schwierig an verlässliche und vollständige Werte kommt. Daher haben wir uns bei der Landesinitiative StadtBauKultur NRW die beiden Kommunen vorgenommen, in denen es ein Kirchenkataster gibt: Bochum und Gelsenkirchen. Hier sind bereits rund ein Drittel der Kirchenräume von Schließung betroffen. Und wir glauben, diese Entwicklung kommt auch auf viele andere Kommunen in NRW zu.

Warum werden diese Kirchen geschlossen?

TR: NRW war nach dem Zweiten Weltkrieg durch ein starkes Bevölkerungswachstum und Zuwanderung geprägt, darunter auch viele katholische und evangelische Christen. Hinzu kamen ausgesprochen baufreudige Landeskirchen und Bistümer mit einem optimistischen Blick in die Zukunft. Doch so stark, wie damals alles gewachsen ist, so radikal kam auch der demographische Wandel. Mit der sinkenden Zahl an Kirchenmitgliedschaft und vor allen an Gottesdienstbesuchen werden dann teils auch die Kirchengebäude in Frage gestellt.

Duisburg, die als Kulturkirche genutzte Liebfrauenkirche (Foto: Christian Huhn)

Dann trifft es vor allem die Kirchen des 20. Jahrhunderts?

TR: Nicht nur, auch Bauten aus dem 19. Jahrhundert sind darunter. Aber sicher wurde in den Nachkriegsjahrzehnten besonders viel gebaut – und besonders gerne an dezentralen Standorten in damals neu entstehenden Stadtteilen. Wenn heute Gemeinden zusammengelegt werden, dann stehen zuerst die abgelegeneren Kirchenräume zur Disposition. Das hat wohl auch emotional-geschmäcklerische Gründe: Für viele Menschen entsprechen historisch anmutende Bauten eher ihrem heimeligen Bild von Kirche. Mit der Moderne wird oft noch gefremdelt. Bis in die 1970er Jahre hinein galt auch der Historismus als wertlos. Das hat sich inzwischen geändert, so könnte es auch mit den Nachkriegsbauten gehen.

Nicht jede von Schließung bedrohte Kirche hat das Glück, von einem großen Architekten an prominenter Stelle errichtet worden zu sein. Was wird aus den zunächst unscheinbaren Stadtteilkirchen?

TR: Große Kirchen in prominenter Lage haben es natürlich einfacher, Menschen zu finden, die sich für ihren Erhalt einsetzen. Aber es gehört zum Anspruch unseres Projekts „Zukunft – Kirchen – Räume“, dass auch die Stadtteilkirchen eine Chance bekommen. Es geht nicht nur um Exzellenz. Vielleicht ist es ja gerade dieser zunächst unscheinbare Raum, der jetzt in seinem Quartier eine neue Bedeutung erlangen kann.

Auszug aus der moderneREGIONAL-Karte „invisibilis“, virtuelle Karte bedrohter (hellgrün), geschlossener (schwarz), abgegebener (violett), umgenutzter (dunkelgrün) und abgerissener (rot) Kirchenbauten des Historismus und der Moderne in NRW
Auszug aus der moderneREGIONAL-Karte „invisibilis“, virtuelle Karte bedrohter (hellgrün), geschlossener (schwarz), abgegebener (violett), umgenutzter (dunkelgrün) und abgerissener (rot) Kirchenbauten des Historismus und der Moderne in NRW

Was genau erwartet uns am 14. Februar?

TR: Eine Homepage, wie es sie noch nicht gibt! In drei Sparten werden Informationen bereitgestellt, damit von einer Schließung betroffene Gemeinden und Initiativen durchstarten können: Erstens werden rund 60 beispielhafte Umnutzungen aus ganz NRW vorgestellt. In einer zweiten Kategorie findet sich viel baufachliches Wissen für diese außergewöhnliche Aufgabe – von der Ideenfindung bis hin zu den Besonderheiten des Kirchenrechts. Und an dritter Stelle haben wir die Kontaktdaten von Fachleuten zusammengestellt, die bei diesen Prozessen helfend zur Seite stehen können: Ingenieure, Architekten und Moderatoren.

Gemeinden und Initiativen können sich bei Ihnen bewerben.

TR: Zunächst hoffen wir, dass möglichst viele Interessierte in und über NRW hinaus die Homepage nutzen. Aber natürlich ist eine individuelle Beratung durch nichts zu ersetzen. Wer als Gemeinde oder gemeinnützige Initiative noch ganz am Anfang des Prozesses steht, kann sich bei unserem Offenen Projektaufruf bewerben. Eine Jury wählt rund acht Projekte aus, die über rund zwei Jahre intensiv begleitet werden.

Duisburg, die abrissbedrohte Kirche St. Barbara (Bild: Christian Huhn, im Rahmen der Kampagne „Big Beautiful Buildings“)

Warum engagieren Sie sich als Landesinitiative für diese Bauten? Das ist doch eigentlich ein innerkirchliches Thema …

TR: Wir haben es hier mit einem bedeutsamen gesellschaftlichen Transformationsprozess zu tun. Nachdem sich die Entwicklung schon seit mehreren Jahrzehnten angebahnt hat, manifestiert sie sich nun im Stadtraum. Da wird unser baukulturelles Erbe massiv in Mitleidenschaft gezogen. Wir dürfen diesen Wandel nicht allein dem Immobilienmarkt überlassen oder hoffen, dass die Kirchen diese Aufgabe alleine bewältigen können. Wir müssen diesen Wandel – gemeinsam mit den Kirchen, der Denkmalpflege und anderen Partnern – aktiv mitgestalten. Dann können wir in 20 oder 30 Jahren zurückblicken und sagen: Wir haben das Beste daraus gemacht!

Das Gespräch führte Karin Berkemann für das Magazin moderneREGIONAL

Ab dem 14. Februar 2019 freigeschaltet: die Projekthomepage.

Das von StadtBauKultur NRW initiierte Projekt „Zukunft – Kirchen – Räume. Kirchengebäude erhalten, anpassen und umnutzen“ findet in Kooperation mit der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen und der Ingenieurkammer-Bau Nordrhein-Westfalen unter Mitwirkung der (Erz-)Bistümer und Landeskirchen in Nordrhein-Westfalen und Unterstützung des M:AI Museum für Architektur- und Ingenieurkunst NRW und der RWTH Aachen statt.